Mittwoch, 8. Juli 2015

Traditioneller Gesang in der schwedischen Volksmusik


Was zeichnet den traditionellen Gesang in der schwedischen Volksmusik aus? Dieser Frage geht die Sängerin und Musikwissenschaftlerin Susanne Rosenberg in ihrem Artikel "Folklig sångsätt" nach, der hier - übersetzt und gekürzt - vorgestellt wird:


Susanne Rosenberg
Heutzutage ist es üblich, musikalische Noten quasi als das Original zu betrachten, in dem ein Lied zum Leben erweckt und für die Nachwelt festgehalten wurde. Zu wissen, wer ein bestimmtes Werk erschaffen hat (z.B. eine Romanze von Schubert),   ist uns oft wichtig, wenn wir über Musik sprechen.

Ganz anders ist dies in der schwedischen Volks-musik, die eine Welt des Hörens ist, in der die ausführende Person und die Art und Weise, wie sie das Lied umsetzt, das einzige ist, was zählt. Man spricht nicht davon, wer ein Lied erfunden hat, sondern wessen Interpretation man spielt oder singt. Man lässt auf sich wirken, wie eine bestimmte Sängerin ein Lied singt und erlernt es, indem man genau zuhört und nachzuahmen versucht, wie sie dieses Lied singt.





Ein Kunstwerk im Moment

Das eigentliche Lied existiert nur im Moment, in dem es gesungen wird. Es liegt in der Verantwortung des Sängers, dem Lied - der "Idee im Geiste" - gerecht zu werden. Diese Idee dient als Rahmen, den man mit der eigenen Persönlichkeit, dem persönlichen Ausdruck, der individuellen Art und Weise des Singens und nach Belieben mit Verzierungen und Naturtönen ("blåtoner" bzw. "blue notes") füllen kann. Erst wenn man das Lied singt, erschafft man seine Form und gibt ihm eine persönliche Auslegung ... ein Kunstwerk im Moment.



Lisa Boudré
Auf diese Weise sind Lieder von Generation zu Generation weitergegeben worden. Die Lieder sind einem ständigen Wandel unterworfen ... Verzierungen werden hinzugefügt und entfernt, die Melodie wird umgeformt, die Texte und Verse werden variiert ... ganz abhängig davon, wer das Lied gerade singt.

Die traditionelle Singweise hat laut Rosenberg einiges mit der Poesie gemeinsam: In einer fremden Sprache Poesie zu erschaffen, ist - so sagt man - die schwierigste aller Künste. Poesie setzt voraus, dass man die Bedeutungen der Wörter, deren Farbe und Ton versteht und dass man die Grammatik der Sprache beherrscht. Hingegen ist es möglich, in der eigenen Sprache strahlende Poesie zu erschaffen,   ohne sagen zu können, was ein Adverb oder ein Plusquamperfekt ist - also ohne seine Kenntnisse formulieren zu können! Zu behaupten, dass schwedische Folksängerinnen wie Lena Larsson oder Lisa Boudré sangen, ohne genau zu wissen, was sie taten, trifft gemäss Rosenberg nur in dem Sinne zu, als dass sie ihr Tun nicht in Worte fassten. Sie wählten jedoch sehr bewusst, wie ein Lied - ausgehend von der eigenen Tradition und Ausdrucksweise - tönen sollte. 



Zuhören und nachahmen

Wer heutzutage die Grammatik dieser reichen und subtilen Sprache erlernen möchte, muss vor allem lernen zuzuhören und nachzuahmen. Hilfreich ist zudem, wenn man diese Sprache auch beschreiben lernt, um sie (hörend) verstehen und anwenden zu können, findet Rosenberg.
 Manchmal bekomme man zu hören: "Volksmusik zu singen, bedeutet ja bloss frei heraus zu singen" oder "Volksmusik kann man nicht lernen, da wird man reingeboren". In beiden Aussagen kämen Vorurteile zum Ausdruck, vergleichbar mit der Behauptung, dass nicht Jazz spielen könne, wer nicht schwarz sei. Susanne Rosenberg ermuntert uns dazu, all diese Vorurteile rund um die Volksmusik loszulassen und diese reiche Musiksprache zu erlernen, einfach weil sie uns gefällt. 






Charakteristik der traditionellen Singweise
 

Um sich die traditionelle Singweise anzueignen, ist es sinnvoll, einige Charakteristiken der schwedischen Volksmusik zu kennen.

  • Die Lieder werden mündlich überliefert: Es gibt keine Originalkomposition und keine schriftliche Vorlage. Jeder Sänger erlernt ein Lied "gemäss jemandem" ("efter någon"), indem er dessen Interpretation nachahmt und daraus seine eigene Version entwickelt. Es entsteht Musik, die nur im Moment existiert ... während des Singens.
  • Klang und Rhythmik wurzeln in der schwedischen Sprache: Die Sprache lässt eine ganz spezifische Klangwelt und Rhythmik entstehen, welche in der Sprache selbst angelegt sind.
  • Modale Tonsprache: Die ältere schwedische Volksmusik ist laut Rosenberg eine lineare Musik, die rund um einen Grundton aufgebaut ist. Die Melodielinie bezieht sich einzig auf diesen Grundton. Im Gegensatz zur harmonischen Musik braucht die modale Musik keine Akkordabfolge, um bedeutungsvoll zu werden.
  • Kleiner Tonumfang: Die Lieder umfassen in der Regel höchstens eine Oktave. Dadurch wird es einfacher, die verschiedenen Intonierungen von Tonhöhen zu erlernen.
  • Meist einstimmig gesungen: Es gibt nur wenige Beispiele mehrstimmiger Lieder. In der Regel wurde einstimmig gesungen, wobei besonders tüchtige Sänger/innen über dem Gesang der anderen improvisierten (Verzierungen, Ausschmückungen, Variationen).
  • Meist solistisch gesungen: Ein Lied alleine zu singen, eröffnet der singenden Person, die sich nicht nach anderen richten muss, einen grossen Variationsspielraum. Sie kann zum Beispiel einen zu ihrer Stimme passenden Grundton wählen und sie entscheidet selbst, in welchem Tempo sie das Lied singt und wo sie Variationen und Ausschmückungen einbaut.
  • Meist "a cappella" gesungenDie älteren Volkslieder und auch die kirchlichen Choräle wurden bis Anfang des 20. Jahrhunderts in der Regel ohne instrumentale Begleitung gesungen.


Stimme und Klang
  • Individueller Grundton: Im traditionellen Gesang wählt man den Grundton - und somit die Stimmlage - so, dass er gut zur eigenen Stimme und ihren Möglichkeiten passt. Die Lage, in der die eigene Stimme am schönsten erklingt, liegt bei den Frauen nahe der Sprechstimme (Alt) und bei den Männern etwas höher (Bariton). So ist zu erklären, weshalb die gewählten Grundtöne bei Männern und Frauen traditionell nicht weit auseinander lagen.
  • Flexibler Kehlkopf: Der Kehlkopf ist beweglich und folgt der Melodie in der Tonhöhe nach oben und unten. Besonders deutlich wird dies beim "Kulning" (einem reich verzierten Hirtenrufgesang), bei dem sich der Kehlkopf bei den extrem hohen Tönen bis zu 4 Zentimeter erhöht.
  • Unausgeglichener Klang: Im Gegensatz zum "klassischen" Gesang, bei dem eine Angleichung und ein fliessender Übergang zwischen unterschiedlichen Vokalen gesucht wird, bedient man sich im traditionellen Gesang der Unterschiede, welche den Sprachlauten innewohnt und verstärkt diese.
  • Klangplatzierung weit vorne im Mund: Dieser Vordersitz lässt einen nasalen und schmalen Klang entstehen, der eine starke (Aus)Richtung hat.
  • Kein deutliches Vibrato


Sprachlaute
  • Deutliche Vokale: Man nutzt die Unterschiedlichkeit der Vokale und betont diese, sodass eine variierte Klangfarbe entsteht. Die Vokale hält man nur kurz aus.
  • Deutliche Konsonanten: Die Konsonanten haben sowohl eine rhythmische als auch eine artikulierende Funktion. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachlauten werden betont. Beim "Trall" (einem Gesang ohne sinntragende Silben) werden die Konsonanten manchmal rein perkussiv - wie ein Schlagzeug - eingesetzt.
  • Klingende Konsonanten: Neben den Vokalen können auch bestimmte Konsonanten wie etwa "m", "n", "ng" und "l" zum Klangträger werden. Befindet sich ein klingender Konsonant am Ende einer Phrase, betont man diesen singenderweise und das Lied gewinnt an Intensität. Indem man die klingenden Konsonanten singend auskostet, bekommt das ganze Lied seinen charakteristischen Klang.


Tonalität
  • Tonalität mit Naturtönen / Vierteltönen ("blåtoner"): Die Tonalität im traditionellen Volksgesang ist eine andere als jene, die wir heutzutage normalerweise hören. Vierteltöne beispielsweise über Terzen, Einleitungstönen, Sexten oder Septimen sind sehr üblich. Es gibt bis zu fünf verschiedene Intonationsmöglichkeiten für ein und denselben "Tonplatz". Dies ergibt eine "bluesige" Musik mit sehr grossen Variationsmöglichkeiten.
  • Die Intonation hat eine enorme Bedeutung in dieser Musik, die nur einen kleinen Tonumfang umfasst und rund um einen Referenzton aufgebaut ist.


Ansatz und Phrasierung
  • Mit deutlichem Ansatz einsetzen: Phrasen und Verse werden gerne mit einer deutlichen Markierung (z.B. einem Vorschlag) begonnen.
  • Deutlich absetzen: Jede Phrase beginnt mit einem Grossbuchstaben und endet mit einem Punkt. Am Ende wird nicht - leiser werdend - abphrasiert, sondern man lässt den Ton bis zum Schluss unvermindert ertönen, bis man ihn plötzlich zum Abschluss bringt. Das wird besonders deutlich, wenn die Phrase auf einem klingenden Konsonanten endet.
  • Deutlich phrasieren: Dies ist in einer Musik, in der man sich auf keine Komposition verlassen kann, besonders wichtig. Man ist selbst die ganze Musik und muss die Fäden unermüdlich zusammenhalten.


Rhythmik, Puls und Tempo
  • Kurze Töne werden kürzer, lange Töne werden länger: Die Länge der Töne  im Verhältnis zueinander variiert ständig, kein Ton gleicht dem anderen. In rhythmisch "freien" Liedern (ohne Puls) können die Unterschiede zwischen kurzen und langen Tönen gross werden. Im tanzbaren "Trall", bei dem der Puls über die Zeit bestimmt, gilt es die Rhythmik ständig zu variieren, während man den Puls beständig beibehält.
  • Eigenes Tempo wählen: In den solistisch gesungenen Liedern bestimmt man sein eigenes Grundtempo auf dieselbe Weise, wie man den passenden Grundton für sich wählt.


Verzierung und Variation
  • Verzierungen variieren: Die Ausschmückungen - z.B. Melismen, Vorschlagsnoten und Triller - werden beim Singen ständig variiert und oft mit jedem weiteren Vers zahlreicher eingesetzt.
  • Melodische Variationen entwickeln: Da es keine feste Version des Liedes gibt, variiert man die Melodie nicht nur jedes Mal, wenn man sie singt, sondern auch von Strophe zu Strophe ... eine Kunst des Augenblicks!


Interpretation des Textes
  • Töne und Text verschmelzen miteinander: Im traditionellen Gesang wird nicht vom Text ausgehend interpretiert, d.h. die stimmliche Phrasierung ist dem Textinhalt nicht untergeordnet. Manchmal sind die erzeugte Laute am wichtigsten, manchmal die Töne, manchmal der Text. Alles verschmilzt zu einem Ganzen von ergreifender Wirkung.  


Zusammenfassung
  • Das Lied kann als Rahmen gesehen werden, den man - mit Hilfe von  rhythmischen und melodischen Variationen, variabler Intonation, Verzierungen, Sprachlauten, Phrasierungen und Dynamik - ganz persönlich auslegt.
  • Variationen und Kontraste suchen: Beim Singen zu variieren und mit Hilfe der verschiedenen Ausdrucksmittel Kontraste zu schaffen, sind integrale Bestandteile dieser Singweise.
  • Vom Einzigartigen in der eigenen Stimme ausgehen: Anstatt die Stimme zu glätten und in eine bestimme Stimmlage zu zwingen, singt jede Person mit ihrer eigenen charakteristischen Stimme in der für sie bequemsten Lage ... in der die Stimme am besten klingt.
  • Vom persönlichen Stil und der Tradition ausgehend variieren: Obwohl alle die gleiche Grammatik und Ausdrucksmittel verwenden, wird das Lied bei jedem Sänger anders klingen. Die Persönlichkeit der Sängerin und ihr Verwurzelt-Sein in der Tradition soll hörbar werden.



FOLK VOCAL mit Susanne Rosenberg (Mitte vorne)





Quellen

http://www.uddatoner.com/blatoner/blatonerochkrus/HelaFramsidan.html

http://www.susannerosenberg.com

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