Sonntag, 14. Juli 2013

Kleine Geschichte der Runenlieder im finno-ugrischen Sprachraum

Die „alten“ Musiktraditionen

Houjikko


Kantele



















Die „alten“ musikalischen Traditionen im finno-ugrischen Sprachraum in Finnland, Russland und Baltikum bestehen aus gesungenen Formen (Runenlieder, Hirtenrufe, Klagelieder) und instrumen­ta­lem Spiel auf kleinen Kantelen, auf „Jouhikkos“ und diversen Hirten­flöten und anderen Blasinstrumenten. Auf der harfenartigen Kantele wurden Tanzlieder ge­spielt und Runengesänge begleitet. Die Streich-Laute Jouhikko, die ur­sprüng­lich im Osten Finnlands (Karelien, Savo) und in Teilen Estlands und Schwe­dens heimisch war, kam vor allem als Soloinstrument bei einem „Stepp­tanz“ zum Einsatz. Auch Runengesänge wurden gelegentlich mit diesem Streichinstrument begleitet.
 


Es waren traditionell Frauen, welche die Hirtenrufe einsetzten, um ihr Vieh herbei­zu­rufen. Die Rufe waren in der Regel an keinen Rhythmus gebunden und die absteigenden Melodie­linien wurden mit langen Melismen verziert. Die ebenfalls meist von Frauen praktizierte Tradition der rituellen Totenklage ist in der lutheranisch geprägten Populärkultur Est­lands und Finn­lands kaum mehr zu finden. Überlebt hat die Tradition im russisch-orthodox ge­prägten Lebens­raum: Frauen improvisieren hier eine Art "stilisiertes Weinen" und bringen damit nebst dem persönlichen Schmerz auch die Trauer des Umfeldes zum Ausdruck. In Ingermanland (bei St. Peters­burg) und Setumaa (Südost-Estland) hat sich die ursprüngliche Totenklage über die Jahrhunderte mit der geisterbeschwö­renden Poesie der lyrischen Runen-Liedern vermischt. In den nördlichen Regionen Kareliens und Russlands hat sie dagegen wenig mit der sonst prak­ti­zier­ten Gesangstradition gemein. In einem für westliche Ohren „falsch“ into­­nierten Sprech-gesang mit monumentaler Poesie wird Kontakt zum Ver­storbenen gesucht. 



MeNaiset
Die Runenlieder stellen eine musikalische Welt für sich dar. Im Zentrum der Gesangstradition stehen epische Erzählungen, lyrische Gedichte und magische Beschwö­rungen, die Runen (finnisch „runo“) genannt werden. In den gesungenen Gedichten gibt es keine Strophen und keinen Refrain, vielmehr reiht sich Vers-zeile an Verszeile, während die Melodie – mit ihrem geringen Tonumfang von zwei bis fünf Tönen – endlos und sehr ausdrucksstark variiert wird. Der Rhythmus ergibt sich aus dem Versmass, weshalb ungerade Taktarten wie etwa der 5/4- oder der 13/8-Takt keine Seltenheit sind. Die Runenlieder werden traditionell a cappella und im Wechselgesang gesungen, wobei der "Chor" die Textzeile der Vorsängerin oder des Vorsängers wiederholt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Lied "Kuulin äänen" von MeNaiset.




Die neuen gereimten Volkslieder 

Ab dem 18. Jahr­hun-dert breiteten sich die protestantischen Frei-kirchenbewe­gungen – mit ihrer organis­ierten Bildungs- und Gesangskultur (aktives Singen, neues Reper-toire) und ihrer repressi­ven Haltung gegen­über der alten Weltsicht der Volks-kultur, Volkslieder und Tänze – immer stärker in den ländlichen Gebieten Finnlands und Estlands aus. Mit ihnen hielt eine neue Form von Musik in den Dörfern Einzug: Die Periode der struktu-rierten, gereimten Strophenlieder begann. Bis ins 20. Jahrhundert hinein existierten die alten Runengesänge Seite an Seite mit den neueren gereimten Volksliedern. Doch die Runenlied-Tradition geriet immer mehr in Vergessenheit: zuerst im kulturell „fortschrittli­chen“ – an der Schwedisch sprachigen Oberschicht orientierten – Westen und Süd­en Finnlands, später auch in Estland. In den abgelegenen Dörfern Kareliens hingegen und im Einflussbereich der toleranteren russisch-orthodoxen Kirche (z.B. in Setumaa) haben viele archaische Elemente der Volkskultur die Zeit überdauert. 



Die Kalevala und das nationale Erwachen


Die wissenschaftliche Forschung in Finn- und Estland begann sich im 19. Jahrhundert für die alten Gesangstraditionen zu interessie­ren. Elias Lönnrot sammelte auf seinen damaligen Reisen in Karelien und Savo uralte Runenlieder und ver-öffentliche sie in seinem Epos „Kalevala“ und in der lyrischen „Kante­le­tar“. Das wissenschaftliche Sammeln ging Hand in Hand mit der – nach Unabhängigkeit von Schweden und Russland strebende – Bewegung des nationalen Erwachens, welche die folkloristische Tradi­tion als Grundpfeiler für die neue moderne Identität benutzte und von einem gemeinsamen kultu­rell-ethnischen Erbe der finno-ugrischen Völker ausging. Finnisch, die von der Land­bevölke­rung gesprochene Sprache, wurde erstmals in Schrift­form gefasst und der schwedischen Sprache gleichgestellt.








Die „Kale­vala“ wurde zur internationalen Sensation und nimmt seit rund 150 Jahren eine Schlüssel­rolle im kultu­rel­len Nationalstolz Finnlands ein. Auch die Volkspoesie und -musik im Baltikum wurde stark durch das Epos beeinflusst. Künstler der Spätroman-tik (z.B. Jean Sibelius) nutzten die „Kalevala“ als Quelle der Literatur und des Wissens, J.R.R. Tolkien bezeichnete sie gar als wichtigste Grundlage seiner Trilogie „Herr der Ringe“, doch lange Zeit wurde sie kaum je mit der alten Gesangstradi­tion in Verbindung gebracht. „Wir wussten nicht, dass all diese traditionellen Gedichte früher gesungen wurden. Denn in unseren Büchern wurde das nicht erwähnt. Melodien und Texte wurden separat, in verschiedenen Büchern, ge­sammelt“, erzählt Mari Kaasinen, Sängerin der Band Värttinä. Während zu Lönnrots Zeiten fast ausschliesslich Texte (und kaum Liedmelodien) gesammelt wurden, war es Anfang des 20. Jahrhunderts umgekehrt: Besorgt über das Ver­schwinden der traditionellen Volkskultur sammelten Forscher wie z.B. Armas Launis baltisch-finnische Runenmelodien, Sami-Yoiks und Liedmelodien aus Estland, Ingerman­land und Karelien, die sie sich in den Dörfern vorsingen liessen und aufzeichneten.



Unterdrückung zu Zeiten der Sowjetunion

Heute basiert das estnische Selbstverständnis als „singende Nation“ weniger auf den alten Runen-liedern, sondern auf einer Tradition des gemein-samen Singens, die aus der sozialen Chorbewegung des national-roman­tisch und lutheranisch geprägten Bürgertums entstanden ist. Während die Runen­lieder vielerorts in Vergessenheit geraten sind, sind sie in der Region Setumaa – im Grenz-gebiet zwischen Estland, Lettland und Russland – noch immer Teil der Alltagskultur. Die finno-ugrische Sprache und Lieder der Setu waren zur Zeit der Sowjetunion verboten. Auch in Ingerman-land bei St. Petersburg wurden die Finnisch sprachigen Bevölkerungsgruppen – und damit auch ihre Lieder – unterdrückt; viele Menschen wurden nach Sibirien deportiert oder umgebracht. Im Werk "Forgotten Peoples" setzte sich der estnische Komponist Veljo Tormis ab 1970 in sechs Zyklen mit der traditionellen Musik von sechs finno-ugrisch sprachigen Bevölkerungsgruppen in Estland, Ingermanland und Karelien auseinander. Seine Musik war lange Zeit verboten. Hörtipp: Rundtanz aus dem Zyklus "Ingrian Evenings".



Erstarktes Interesse an der alten Musiktradition

Seit der politischen Wende 1989/90 wird die alte Runenliedtradition in Estland und teilweise auch in Ingermanland wieder vermehrt gepflegt. Auch in Finnland hat das Interesse der Öffentlichkeit an den alten Musiktraditionen seit Mitte der 1980er-Jahren zugenommen. Damals eröffnete das nationale Musikkonservatorium – die Sibelius Akademie – eine Volksmusikabteilung, die bis heute einen grossen Einfluss auf populäre Bands wie Värttinä und Suden Aika ausübt. Viele dieser Musiker/innen sind Studienabgänger der Sibe­lius Aka­demie. Ihnen ist eine Philosophie gemeinsam, die der Tradition einen tiefen Res­pekt entgegenbringt und gleichzeitig neue, spannende Musik schaffen will. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Lied "
Viikon Vaivane" der Band Värttinä.





Värttinä aus Finnland
Vokalensemble "Suden Aika"



 




 














 




 









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